Websites im Browser aufrufen war gestern. Stattdessen werden wir bald einen Großteil unserer Zeit im Metaverse verbringen – zumindest, wenn es nach Visionären wie Mark Zuckerberg geht. Die Idee: ein immersiver Kosmos, der dieselben Möglichkeiten bietet wie das echte Leben: Freunde treffen, spielen, arbeiten, kreieren und virtuelle oder reale Produkte kaufen – das alles soll in Zukunft per VR-Brille und Sensoren möglich sein. Doch wie viel dieser Vision ist bereits Realität? Welche Chancen bietet das Metaverse und wo liegen seine Gefahren? In diesem Artikel wagen wir eine vorsichtige Bestandsaufnahme.
Was ist das Metaverse?
Bis jetzt hat es niemand geschafft, den Begriff „Metaverse“ präzise zu definieren. Selbst der Essayist Matthew Ball – so etwas wie eine Ikone auf dem Gebiet – bringt es in seiner Definition auf ganze 51 Wörter. Du kannst dieses Ungetüm hier nachlesen.
Schon die Wortbestandteile sind ominös: „Meta“, das bedeutet in diesem Zusammenhang so viel wie „darüber“ „höher als“ oder „umfassender“. Universe, also Universum, ist natürlich die Gesamtheit aller Dinge. Damit wäre das Metaverse… über allem? Oder gar Alles?
Vielleicht kann ein Blick in die Anfänge des Begriffs mehr Klarheit bringen. Dafür müssen wir ins Jahr 1991 zurückreisen, als Neal Stephenson seinen Roman „Snow Crash“ veröffentlichte. Stephensons Metaverse beschreibt eine Realität, in der Menschen ein virtuelles Leben als Avatar führen, sich mit Freunden treffen, Abenteuer erleben oder einfach nur dem trostlosen Alltag entfliehen. Dafür genügt es, sich mit spezieller Hardware zu verbinden.
„Snow Crash“ war nicht nur ein Erfolgsroman. Er beflügelte auch die Fantasie des Silicon Valley. Mit zunehmendem technischem Fortschritt schien die Idee einer grenzenlosen virtuellen Realität immer weniger wie Science-Fiction. Um jedoch zu verstehen, was das Metaverse eigentlich ist, sollten wir uns einige Kernprinzipien ansehen:
Das Metaverse – wichtige Prinzipien
Das Metaverse ist riesig und offen
Bereits jetzt können Nutzer in Videospielen virtuelle Welten erkunden. Der Unterschied: Diese Spiele haben – so komplex sie auch sind – immer einen begrenzten Umfang. Sobald alle Spielziele erfüllt, jeder Gegner besiegt und jeder seltene Gegenstand gesammelt ist, gibt es keinen Grund mehr, weiterzuspielen. Die Grenze des Möglichen wird von den Entwicklern vorgegeben.
Im Vergleich dazu versprechen Metaverse-Visionen grenzenlose Freiheit. Die Idee ist eine Welt, die ebenso viele Möglichkeiten bietet wie die Realität. Dort könnten Menschen leben, arbeiten, Geschäfte abwickeln und sozial interagieren – wie im echten Leben, nur eben als Avatar. Das Metaverse läuft dabei in Echtzeit, ohne Pause. Es wird ständig erweitert und kann eine unbegrenzte Zahl von Teilnehmern beherbergen.
Das Metaverse ist dezentral
Bleiben wir beim Vergleich mit Computerspielen: Während diese einen abgeschlossenen Kosmos darstellen, der von anderen Spielen getrennt ist, soll das Metaverse dezentral sein. Das heißt: Es gibt keinen Akteur, der das gesamte digitale Universum kontrolliert. Eher kann man es als Vernetzung unzähliger kleiner Metaversen verstehen, zwischen denen Spieler nahtlos hin- und herwechseln können – etwa so wie zwischen heutigen Websites.
Das Metaverse ist immersiv
Das Metaverse wird oft als Verkörperung des Web 3.0 bezeichnet. Der Unterschied: Anders als beim Web 2.0 betrachten wir diese Form des Internets nicht mehr von außen. Wir werden – um es mit den Worten Mark Zuckerbergs zu sagen – „ein Teil davon“. Möglich machen es Virtual Reality-Technologien, die die Grenze zwischen realer und virtueller Welt verschwimmen lassen. Die klassische VR-Brille a la Oculus Rift ist dabei nur der Beginn. Mithilfe spezieller Anzüge lassen sich Gerüche und sogar Berührungen simulieren, sodass wir Gegenstände virtuell in die Hand nehmen können. Gleichzeitig sollen Sensoren unsere biometrischen Daten erfassen. Avatare werden somit zu exakten Kopien ihres Trägers, die Bewegungen und Mimik nachahmen. Spinnt man all diese Technologien weiter, könnte das Metaverse irgendwann so lebensecht wirken wie die Realität.
Das Metaverse besitzt seine eigene Wirtschaft
Ein weiteres wichtiges Element des Metaverse sind digitale Güter und Dienstleistungen. Wer seinen Avatar verändern möchte, kann beispielsweise Kleidung kaufen, die von anderen Usern entworfen wurde. Oder wie wäre es mit einer Luxusvilla in der virtuellen Nachbarschaft? Bereits jetzt schaffen Metaverse-Anwendungen wie „The Sandbox“ Parzellen, auf denen Privatpersonen und Unternehmen ihre eigenen Umgebungen einrichten können – etwa zu Werbezwecken.
Der Kauf von digitalen Gütern ist nichts Neues: Nahezu jedes Computerspiel bietet die Möglichkeit, sich Gegenstände oder Skins gegen Echtgeld zu beschaffen. Diese Güter lassen sich jedoch nicht in anderen Spielen nutzen. Dazu kommt: Sollten die Entwickler den Support für das Spiel einstellen, geht auch der Gegenstand verloren.
Im Metaverse stattdessen wirst du zum echten Eigentümer dieses Gegenstands. Niemand kann ihn dir wieder wegnehmen, da die Besitzrechte per Blockchain-Technologie genau dokumentiert sind. Man spricht dabei auch von NFTs: nicht ersetzbaren Wertmarken. Außerdem wird es möglich sein, diese Gegenstände, Leistungen etc. in alle Welten des Metaverse mitzunehmen, zu tauschen und zu verkaufen. Das Resultat: Wirtschaftskreisläufe wie im echten Leben.
Das Metaverse verbindet die reale und die virtuelle Welt
Das Metaverse ist keine Realität, die abgegrenzt von der wirklichen Welt existiert. Stattdessen werden beide integriert und verschmolzen. Wer beispielsweise NFTs kaufen möchte, benötigt dafür Kryptowährungen, und diese müssen in der echten Welt verdient werden. Das Gleiche gilt für physische Produkte, die im Metaverse erworben, aber an deine echte Adresse geliefert werden. Der einzige Unterschied: Du gehst dafür in einem virtuellen Laden shoppen. Das Prinzip funktioniert übrigens auch andersherum: Wer beispielsweise ein physisches T-Shirt kauft, könnte das gleiche Shirt in Zukunft für seinen Avatar im Metaverse erhalten.
Das Metaverse – Anwendungsbeispiele
Wenn das Metaverse – so wie wir es gerade beschrieben haben – erst einmal Fahrt aufgenommen hat, könnten wir vieles virtuell erledigen, für das wir heute unser Haus verlassen müssen. Das zeigen die folgenden Beispiele:
Arbeit
Während der Pandemie sahen sich viele Arbeitnehmer bereits mit dem Metaverse konfrontiert: Auf einmal nämlich ersetzte das Zoom-Meeting die physische Besprechung. Virtual Reality könnte es ermöglichen, diese Erfahrung noch lebensechter zu gestalten. Statt die Mitarbeiter auf dem Bildschirm zu sehen, wären beispielsweise Konferenzräume möglich, in denen alle Kollegen wie im echten Leben zusammensitzen und miteinander interagieren – obwohl sie sich an verschiedenen Orten befinden.
Tourismus
Reisen ist nicht nur teuer, sondern auch schlecht für die Umwelt – vor allem, wenn es mit dem Flugzeug in ferne Länder geht. Anders im Metaverse: Dort könnten Menschen die Welt kennenlernen, ohne jemals ihr Haus zu verlassen. Wie wäre es beispielsweise mit einer Reise nach New York, Wanderungen durch den Dschungel oder einer Besteigung des Mount Everest? Diese Erfahrungen werden im Metaverse lediglich durch die Technologie und die Fantasie der Entwickler begrenzt.
Bildung
Auch Unterricht könnte bald im Metaverse stattfinden – und zwar in virtuellen Klassenzimmern, die ganz nach Belieben gestaltet werden können. Das Ziel: immersive, anschauliche Lernerfahrungen wie nie zuvor. Steht beispielsweise das Sonnensystem auf dem Stundenplan, könnten Schüler als Avatare zu den Planeten reisen. Experimente lassen sich ohne Aufwand und Gefahren durchführen, und im Geschichtsunterricht werden vergangene Epochen zum Leben erweckt.
Medizin
Als Avatar in die digitale Arztpraxis spazieren? Das ist mit dem Metaverse nur der Anfang. Per Sensoren lassen sich Gesundheitsdaten direkt vom Patienten an den Arzt senden, und mehrere Experten können ortsunabhängig bei Beratungen anwesend sein. Oder wie wäre es mit einer noch ambitionierteren Vorstellung? Zwei Chirurgen verbinden sich per VR-Hardware und operieren somit gemeinsam, obwohl sie tausende Kilometer entfernt sind. Dass dies keine Zukunftsmusik ist, zeigte eine Brustkrebs-Operation im Jahr 2022.
Sind wir bereit für das Metaverse? Das Fallbeispiel Facebook-Meta
Das Metaverse verspricht unzählige Möglichkeiten – und kaum jemand verkörperte diesen Optimismus in den letzten Jahren so sehr wie Mark Zuckerberg. Kurzerhand benannte der Facebook-Gründer sein Unternehmen 2021 in „Meta“ um und investierte Milliarden von Dollar. Seine Vision: ein immersiver Kosmos, in dem Nutzer ihr eigenes Zuhause gestalten, miteinander interagieren, spielen, arbeiten und einkaufen können – und das alles mit VR-Brillen von Oculus Rift: einem Unternehmen, das Facebook 2014 kurzerhand aufkaufte.
Ein Jahr später scheint der anfängliche Hype verflogen zu sein.
Reality Labs, Metas Forschungssparte, machte allein im Jahr 2022 ganze 13,7 Milliarden Dollar Verlust. Demgegenüber stehen 15 Milliarden Dollar, die Zuckerberg in Meta Horizon World investierte – ohne viel vorweisen zu können. Gerade einmal 200.000 Nutzer loggen sich regelmäßig in die Virtual Reality-Anwendung ein. Das ist nicht einmal die Hälfte der Nutzer, mit denen Facebook noch vor einem Jahr rechnete. Sogar die eigenen Mitarbeiter müssen Leaks zufolge dazu gedrängt werden, ihr Metaverse zu besuchen.
Im Hinblick auf Facebooks Meta-Flop zogen andere Firmen wie Microsoft und Tencent die Notbremse und stoppten ihre Metaverse-Projekte.
Ist Zuckerbergs Vision also zum Scheitern verurteilt – oder sind wir einfach noch nicht bereit dafür? Sehen wir uns dazu die wichtigsten Kritikpunkte am Konzept Metaverse an.
Kritik am Metaverse
Eingeschränkte Verfügbarkeit
Nahezu jeder Mensch in der entwickelten Welt hat heute die Möglichkeit, ins Internet zu gehen. Mit dem Metaverse sieht es jedoch ganz anders aus. Zum einen braucht es eine blitzschnelle Internetverbindung, um die riesigen Datenpakete ohne Verzögerung zu übertragen. Zum anderen stellt die Hardware eine Hemmschwelle dar. VR-Brillen sind nach wie vor teuer, und ihr Nutzen begrenzt. Facebooks Meta Horizon Worlds etwa bietet aktuell kaum mehr als Mini-Spiele mit dürftiger Grafik – für viele zu wenig, um 400 Euro oder mehr zu investieren.
Kein klares Konzept
„Kinderkrankheiten“, mögen die einen sagen. Andere jedoch stellen die Realisierbarkeit des Metaverse an sich infrage. Wie bereits erwähnt, soll dieses aus vielen kleinen, dezentralen Metaversen bestehen. Da bleibt die Frage: Wer integriert diese Welten zu einem nahtlosen Ganzen, in dem sich Nutzer ohne Kompatibilitätsprobleme bewegen können? Gemeinsame Standards wie eine Programmiersprache müssten her. Doch wer diese bereitstellen könnte, ist aktuell noch unklar. Der Umstand, dass es bisher kein einheitliches Konzept des Metaverse an sich gibt, macht die Sache nicht einfacher.
Umgang mit persönlichen Daten
Auch der Datenschutz bereitet vielen Experten Kopfzerbrechen. Da im Metaverse viel mehr Aktivitäten möglich sind als im Web 2.0, werden auch mehr Daten gesammelt. Ein besonders gruseliges Beispiel sind VR-Anzüge: Diese könnten anhand von biometrischen Informationen wie Mimik, Gestik, Gangart und Augenbewegungen genau verraten, wie Nutzer auf bestimmte Reize im Metaverse reagieren – ein Traum für Unternehmen, die personalisierte Werbung schalten möchten.
Wo es Geld zu verdienen gibt, sind natürlich auch Cyber-Kriminelle nicht weit. Und so fürchten Experten, dass heutige Phänomene wie Phishing, Kreditkartenbetrug und Identitätsdiebstahl im Metaverse noch zunehmen werden. Betrüger könnten sich beispielsweise als Avatare ausgeben, um Zahlungen zu erschleichen – oder komplette Wohnungen ausspionieren, wenn sie das VR-Headset des Opfers hacken.
Soziale Probleme
Zu guter Letzt stellt sich die Frage, ob das Metaverse gut für unsere physische und psychische Gesundheit ist. Bereits jetzt verbringen viele Nutzer gefühlt mehr Zeit vor dem Bildschirm als in der echten Welt. Wie wird dies erst in einer immersiven Welt aussehen, die kaum noch von der Realität zu unterscheiden ist?
Fast schon scheint es ironisch, dass sich die Tech-Welt an Neal Stephensons Roman „Snow Crash“ bedient: Das Metaverse ist dort nämlich alles andere als eine Utopie: So wird der Held des Romans als Loser beschrieben, der sich ein winziges Zimmer teilen muss und für minimalen Lohn Pizza ausliefert. Nur im Metaverse ist er ein strahlender Held mit Luxusvilla: Grund genug, möglichst viel Zeit dort zu verbringen. Manche Menschen – wenig schmeichelhaft Gargoyles genannt – verlassen das Metaverse überhaupt nicht mehr, sondern tragen die benötigte Technik jederzeit am Körper.
Werden wir also bald zu freiwilligen Gefangenen im Metaverse, die nicht mehr ohne VR-Brille lebensfähig sind? Werden virtuelle Erfahrungen das echte Leben Stück für Stück ersetzen? Diese Frage ist schwer zu beantworten. Dennoch warnen Experten, dass Phänomene wie Internetsucht, Bewegungsmangel und soziale Vereinsamung mit dem Fortschritt des Metaverse ganz neue Dimensionen annehmen könnten.